Meine Mutter lebt in einem Pflegeheim. Neuerdings liegt sie immer wieder im Bett mit geschlossenen Bettgittern, die vor kurzem neu angebracht wurden. Sie selbst sagt uns, dass sie immer öfter sehr lange auf Hilfe für einen Toilettengang oder zum Aufstehen warten müsse und beim Klingeln in harschem Ton vertröstet würde. Oder erst nach langem Warten jemand käme. Sie traut sich kaum noch zu fragen und wirkt zunehmend in sich gekehrt. Unsere Nachfragen werden abgetan mit dem Hinweis, die Bettgitter dienen der Sicherheit meiner Mutter, weil sie wiederholt versuchte, alleine aufzustehen. Und man könne außerdem nicht immer gleichzeitig bei jedem Bewohner sein. Aber das kann doch so nicht richtig sein? Wir wollen nur, dass es unserer Mutter gut geht.“
Heidrun W. aus Bocholt
Darum geht's
Gewalt in Pflegeeinrichtungen hat viele Gesichter und reicht von der körperlichen und emotionalen Misshandlung bis hin zu finanzieller Ausbeutung. Egal in welcher Form Gewalt auftritt, sie beeinträchtigt die Lebensqualität und die Gesundheit der betroffenen Personen.
Gewalt erkennen und Menschen schützen ist für Angehörige oft schwierig: Wie erkenne ich Gewalt? Dürfen freiheitsentziehende Maßnahmen, wie Bettgitter, „einfach so“ angewendet werden? Welche Möglichkeiten gibt es für Angehörige und Betroffene einzugreifen, ohne die Situation zu verschärfen?
Rechtliche Grundlagen
Jeder Mensch hat das Recht auf körperliche und geistige Unversehrtheit, ebenso ist die Freiheit des Menschen unverletzlich (Artikel 2 Grundgesetz).
Freiheitsentziehende Maßnahmen (FEM) sind in § 1831 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) geregelt. Als FEM gilt, was eine Person daran hindert, sich frei zu bewegen. In NRW regelt das Wohn- und Teilhabegesetz (WTG) NRW in §§ 8, 8a und 8b unter welchen Rahmenbedingungen FEM zulässig sind. Ausführliche Informationen finden Sie in den Links am Ende des Textes.
Beruflich Pflegende haben gegenüber den von ihnen betreuten Personen eine besondere Schutzpflicht, eine sogenannte Garantenpflicht. Verstoßen Sie dagegen, so machen sie sich unter Umständen strafbar. Ob und welche Verstöße vorliegen muss in jedem Einzelfall geprüft werden und kann strafrechtliche Konsequenzen haben. So ist z.B. bereits das Feststellen der Rollstuhlräder bei einer Person, die diese selber nicht lösen kann eine freiheitsentziehende Maßnahme nach § 239 Strafgesetzbuch (StGB).
Das sagt der Pflegewegweiser
Das Anbringen von Bettgittern ist eine freiheitsentziehende Maßnahme und das von der Mutter geschilderte Verhalten deutet auf Missstände hin. Grundsätzlich ist es wichtig und richtig diesen Umständen nachzugehen und dieses sensible Thema anzusprechen. Ist der Kontakt zu den Pfleger: innen erfolglos, scheuen Sie sich nicht die Heimleitung anzusprechen. Ein offenes Gespräch hilft oft eine solche Situation zu lösen.
Sorgen Sie sich beispielsweise den dringend benötigten Heimplatz zu verlieren, haben Sie die Möglichkeit sich auch anonym an Krisenstellen zu wenden. Diese helfen Ihnen kompetent weiter:
Auch diese Stellen helfen Ihnen weiter:
- WTG Behörde (früher Heimaufsicht) der Kreise und Kommunen
- Medizinischer Dienst
- Pflegeberatung der Pflegekassen
- Opferschutzportal in NRW
! Wichtig: Bei akuter Gefahr ist es wichtig umgehend einzugreifen, ohne sich selbst in Gefahr zu bringen. Akute Gefahr stellen körperliche Verletzungen, Erpressung, massive Vernachlässigung oder Drohungen dar. Schalten Sie in diesen Fällen die Polizei (110) ein. In Notfällen auch den Rettungsdienst (112).
Expertenmeinung
Michaela Leßmann, Krankenschwester und Qualitätsmanagementbeauftragte, Not-Telefon Kreis Paderborn
Der Verdacht auf Gewalt ist eine dramatische und belastende Notsituation. Sollten Sie das Gefühl haben, dass etwas nicht stimmt oder den Verdacht hegen, dass Ihre Angehörige oder Ihr Angehöriger in der Pflegeeinrichtung ein Opfer von Gewalt ist, zögern Sie nicht, diese Vermutung zu äußern. Kontaktieren Sie die zuständigen WTG-Behörden vor Ort, die sich der Angelegenheit annehmen. Zusätzliche Hilfestellen sind auch die bundesweiten Krisentelefone, welche ebenfalls im Rahmen der Beratung tätig werden.
Not- und Krisentelefone sind dafür da, die Betroffenen und ihre Angehörigen, aber auch die professionell Pflegenden in schwierigen Situationen zu unterstützen und Hilfestellungen zu bieten.
Nimmt eine ratsuchende Person Kontakt über das Not-Telefon im Kreis Paderborn auf und schildert den Verdacht auf Gewalteinwirkung, so wird aus dem interdiszipliären Team (Betreuungsstelle, Pflegeberatung oder WTG-Behörde) ein Ansprechpartner oder eine Ansprechpartnerin benannt und der direkte Kontakt hergestellt. Des Weiteren werden gemeinsam mit der ratsuchenden Person sinnvolle Maßnahmen für den individuellen Fall besprochen. So kann beispielsweise die WTG-Behörde (ehemals Heimaufsicht) im Rahmen einer unangekündigten Anlassprüfung feststellen, ob die Versorgung der zu pflegenden Person fach- und sachgerecht erfolgt. Des Weiteren können Handlungsempfehlungen oder Anordnungen erlassen werden, um zukünftig die Versorgung der Person zu verbessern und Mängel in der Einrichtung abzustellen.
Info: Gewalt in der Pflege gibt es auch im ambulanten Bereich! Hier kann die Pflegeberatung die erste Anlaufstelle sein. Die Berater:innen sind sensibilisiert für das Thema und vertrauenswürdige Ansprechpartner:innen. Sie bieten Hilfe und Unterstützung und können der Pflegekasse Fälle melden.